Rede zur Generalversammlung ACT – Berufsverband der Freien Theaterschaffenden Schweiz - am Schweizer Theatertreffen 2015 im Theater Winterthur
Liebe Theaterschaffende, liebe Theatererschlaffte,
„Kommt ein Patient zum Arzt. Sagt der Arzt: „Ich habe eine schlechte und eine gute Nachricht für Sie. Welche wollen Sie zuerst hören?“ Sagt der Patient: „Na, erst mal die schlechte.“ Sagt der Arzt: „Sie haben Krebs im fortgeschrittenen Stadium und nur noch ein paar Tage zu leben.“ Fragt der Patient: „Und was ist die gute?“ - „Sehen Sie die geile Krankenschwester da drüben? Die hat mich gerade gefickt!“
Ein Witz ist der Versuch eines Erzählers, durch gesprochene besonders strukturierte fiktive Erzählung den Zuhörer durch einen für ihn unerwarteten Ausgang - die Pointe - zum Lachen anzuregen. Damit hier keine falsche Diskussionen aufkommen: Die Krankenschwester hat den Arzt gefickt, nicht er sie. Diesen Witz habe ich in der Zeitschrift „Theater der Zeit“ gefunden, die 2013 in Kooperation mit dem Deutschen Theater Berlin ein Arbeitsbuch dem bulgarischen Theaterregisseur Dimiter Gotscheff gewidmet hat.
Warum erzähle ich Euch einen Witz? Um Euch zu unterhalten? Ja, und um anschaulich zu machen, wie der Aufbau eines Witzes unsere Arbeit am Theater wiederspiegelt. Wie im Witz destillieren wir in unseren Berufen Tragik und bringen diese zeitlich gerafft auf die Bühne. Wir transformieren, extrahieren, filletieren die Höhen und Tiefen des Lebens auf der Bühne - und das existentiell, pointiert, ergreifend und mit einem unerwarteten Ausgang. Und damit sind wir unterhaltsam. Als Spezialisten für menschliche Regungen und Erregungen erschaffen wir Unerhörtes und Ungeahntes, legen Schichten von Texten und Themen frei, eröffnen neue Räume und doch sind - leider - die Ergebnisse auf der Bühne oft eindimensional. Sind wir in unseren Proben und Vorstellungen wirklich auf einer existenziellen Suche? Schaffen wir es, unser Publikum in den Vorstellungen von der Relevanz unserer Arbeit zu überzeugen?
Im Dachstuhl des Theaters glimmt es - und zwar gewaltig. Die Zuschauerzahlen der Theater sinken und die Schlangen vor der Kasse gehören heute dem Zoo. Doch soll die Quote wirklich ausschlaggebend sein? Nein, natürlich nicht. „Man muss nicht dabei sein - es lohnt nicht - ich bin doch nicht blöd“, das sind Reaktionen auf die Frage hin, warum kulturell interessierte Menschen nicht mehr ins Theater gehen. Sie haben es sich schmerzlich abgewöhnt. Und doch suche ich das Stadtgespräch und damit die Kontroverse weiterhin im Theater. Ist das auch blöd?
Kennt Ihr das Glücksmoment, das eigene Fahrrad, das eben noch rostig erschien, nach einer guten Inszenierung auf dem Heimweg als fliegenden Teppich zu erleben und vom Erlebten beflügelt, erneut dem „Rad der Geschichte in die Speichen greifen“ zu wollen? Anders gesagt: Sich engagiert und deutlich zu äussern, um eine Veränderung in den Köpfen der Zuschauer zu bewirken? Dies eben beschriebene Gefühl hatte ich lange nicht mehr nach einem Theaterabend. Weder angeregt noch erregt verlasse ich die „Stätten der Diskussion“, „der Konzentration“, „der Reflexion“ und frage mich, was fehlt einem Publikum, das sich vom Theater abwendet mit den Worten: „Ich bin doch nicht blöd“?
„Zehn Deutsche sind dümmer als fünf Deutsche, sagte Heiner Müller, deshalb engagieren wir hin und wieder gern einen Bulgaren“, so die Werbung des Thalia Theaters Hamburg auf der letzten Seite des eingangs zitierten Arbeitsbuchs zu Gotscheff. Mit anderen Worten: Von mir könnt Ihr keine Antworten erwarten.
Gotscheffs Inszenierungen haben beseelt, beflügelt, berührt. Vor allem die klugen, vermeintlich sinnentleerten Momente, deren Inhalte ich als schreckliche Grimasse im Leben wieder fand - sie haben mich bereichert, mich gelehrt, die Spannungen der Bühne anzunehmen und auszuhalten, um sie mit meiner Welt im Nachhall der Vorstellung abzugleichen. Bei der Suche nach ihrem Spiel hat Gotscheff und seine Schauspieler der Humor selten verlassen. Als Suchende verstanden sie sich und haben oft im unermüdlichen Schweigen nachgespürt, was wirklich relevant ist und was nur Mode oder gar nur Idee.
Da steh` ich nun im Bärenkostüm, das ich in jeder dritten Inszenierung erleben muss - ein Effekt, ein Rettungsanker, um das Publikum in eine Spannung zu versetzen? - und bin kurz davor, mir eine Flasche Wasser über den Kopf zu gießen, um Euch ein Raunen zu entlocken, dass da meint: „Hier ist es gefährlich, hier ist es existentiell, authentisch, was für ein engagiertes Theater“. Ja, gießen wir uns gemeinsam Wasserflaschen über den Kopf und erfreuen wir uns, wie dramatisch dieser Moment erscheint. Mehr ist dann aber auch nicht gewesen. Genügt uns das wirklich auf der Bühne? Sind das die Resultate einer wahrhaftigen Suche nach dem Zentrum eines Textes oder Themas?
Dramatisch sind andere Dinge auf dieser Welt, da müssen und sollten wir uns nichts vormachen. Diese „Dramatischen Dinge“ für die Antragslyrik zu verwenden und daraus dann laue Theaterabende zu machen, halte ich für unsere Berufung nicht angemessen. Zudem festigen wir mit dem Nacheifern gesetzter Themen einen bürgerlichen Kulturbetrieb, der die Verhältnisse auf dem Theater diskutiert sehen will, einen radikalen Gegenentwurf aber nicht goutiert. Schlicht: Wirkliche Veränderung nicht anstrebt.
Im Stadtpark sitzt ein Wessi, ein Ossi und ein Pole - vergnügt, jeder auf einer Bank. Eine Fee kommt vom Himmel herunter und sagt: „So, liebe Leute, ihr habt jetzt alle einen Wunsch frei. Aber ich möchte, dass ihr mit dem Wunsch nicht so egoistisch umgeht. Denkt nach, was ihr an euch oder eurer Kultur eventuell besser machen könnt! Überlegt genau!“ Sie geht zum Polen, und der sagt: „Ja, uns wird immer gesagt, wir Polen, wir klauen immer. Ich möchte, dass Polen ab jetzt nicht mehr klauen!“ Pah! Wunsch erfüllt. Dann geht die Fee zum Ossi und fragt: „Na, und was wünscht Du Dir?“ „Ja, ick will, dass die Mauer wieder das ist.“ Pah! Ist die Mauer wieder da. Dann geht sie zum Wessi und fragt: „Und was wünscht du Dir?“ Sagt der Wessi: „Na, Moment! Der Pole klaut nicht mehr, die Mauer ist wieder da ...“ Lange, lange Pause. „Könnte ich einen Cappuccino haben?“
Auch wir schlagen den sicheren Weg ein. Wer bitte schlägt auf uns ein, damit wir endlich erwachen? Anstatt Fragen auf der Bühne präzise zu stellen, Unruhe zu erzeugen oder sie zu bewahren und damit die Bühne als Ort der fragenden Körper zum Stadtgespräch zu machen, setzen wir auf bewährt bunte Bilder, hohlen Bühnenaktionismus, Provokation der Provokation wegen und auf ein Mitleid, das Inszenierungen zu Alibiveranstaltungen degradiert. Die Grenzlinien in der Ästhetik zwischen der freien Szene und dem Stadt- bzw. Staatstheater sind schon seit vielen Jahren aufgehoben. Die Beamtenavantgarde, die den Aufstand der Formate inszeniert, auf dass „dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“ mimt allzu oft die Aufgeklärten. Ein Theaterkritiker 1 beschreibt Gotscheffs Arbeit so: „Mit der Reduktion auf das Wesentliche, den Schauspieler, unterscheidet er sich sehr von der wild-ironischen Poesie, die heute im Theater gängig ist. Sein Blick auf den Mensch entkleidet ihn vielmehr von der Dekoration. In unserem modischen Zeitalter ist diese Haltung vielleicht die wahre Avantgarde.“ Daher frage ich auf alle Bühnen bezogen: Habt Ihr in der letzter Zeit im Theater mal einen Hut fliegen sehen?
„Die Schweiz ist nicht mehr gemütlich“, heisst es in der Boulevard - Komödie „Schweizer Schönheit“ einmal, „die Netten werden entsorgt.“ Ein Kritiker 2 der FAZ zieht das Fazit: „Ein Land, in dem sich nette Clowns als gefährliche Spassverderber und unbeugsame „Stachel im Schweizer Käse“ inszenieren können, ist dann aber doch nicht ganz ungemütlich“.
Tja, da steh` ich im abgewetzten Bärenkostüm, auf der Suche nach einer Flasche, die es jetzt dramatisch zu entleeren gilt. Warum, und das war mein Arbeitstitel für diesen Ausflug in unseren glimmenden Dachstuhl, warum sind wir am Theater so harmlos - so harmlos geworden?
Gotscheffs „Iwanow“ 2005 an der Volksbühne Berlin liess uns keine Sekunde Zeit, abzulenken von dem, was wir wohl sind: Fehlbare Wesen, die offensichtlich nicht klüger werden und sich darauf immer wieder einen Reim schmieden müssen um nicht wahnsinnig zu werden. Die Inszenierung zwang das Publikum humorvoll uns als Menschen auszuhalten - in Zeiten der Selbstoptimierung klingt das resignativ. Ja. Aber ist es nicht genau unsere Aufgabe an den Bühnen, dem Wahnsinn immer wieder lustvoll und klug in die Augen zu schauen? Hirne und Herzen zu öffnen und zu bewegen ist ein Handwerk, das wir Theaterschaffende erlernt haben. Ist unser Handwerkszeug stumpf? Oder sind wir es? Der Tagesspiegel Berlin schrieb zu „Iwanow“ 3 : „Der Abend ist anstrengend, gnadenlos unkitschig und wahrscheinlich die intelligenteste Auseinandersetzung mit Tschechow, die man zurzeit in der westlichen Welt sehen kann.“ Habt Ihr so etwas in letzter Zeit einmal über ein Theaterstück vernommen?
Mein Plädoyer für ein Theater auf „Messersschneide“, ein Theater um „Kopf und Kragen“, um „Bauch, Herz und Hirn“, ein Theater als „ständige Axt im Kopf“ verstehe ich als Erinnerung an Theaterabende, in der Menschen- und damit Staatsthemen auf offener Bühne mutig, angstfrei, pointiert und klug artikuliert wurden, um dem Publikum eine Meinungs- und Herzensbildung zu ermöglichen. Das sind die Abende, die wir in Erinnerung behalten, weil sie uns veränderten. Warum hinterfragen wir nicht offensiver unser System, warum nicht uns? Sind wir ein Spiegel des gesellschaftlichen Zustands? Damit also auch „in der Spur“ und stets selbstbezüglich auf den eigenen Vorteil bedacht?
Ich wünsche mir ein Theater der Gegensätze, der Überraschungen, der Obsessionen - egal in welchen Formaten, Hauptsache klug, sinnlich und jederzeit gefährlich. Streichen wir die versöhnlichen Töne, weil sie uns als Publikum und als Theaterschaffende entmündigen, sie täuschen uns ein Spiel vor, das wenig mit dem Lauf dieser Welt zu tun hat. Wir sind mittendrin. Wir sind mitverantwortlich. Wir müssen uns auf den Proben und in den Vorstellungen dazu verhalten. Vielleicht lassen wir einmal mehr vor uns selbst die Hosen herunter, auf der Suche nach dem Punkt, der uns schmerzt? Vertrauen wir doch unseren Texten und Themen und verwenden alle Energie auf eine radikale Suche dessen, was da verhandelt wird.
Unser Publikum will zu Recht mehr, versteht mehr und ist immer bereit, sich auf mehr einzulassen, wenn es einen Dialog auf Augenhöhe erfährt, der glaubwürdig, frei von Moral und Ideologien und damit jederzeit unterhaltsam ist.
Vielen Dank!
1 Till Briegleb
2 Martin Halter
3 Peter Laudenbach
Dirk Schulz Theaterregisseur - dirkschulzregie.de